Wir brauchen mehr Europa - Gedanken über Europa zum 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge
"Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle." Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer definierte schon 1954 in seiner Regierungserklärung, dass die europäische Einigung durch Integration nicht nur ein Gebot der Stunde, sondern eine unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, den bis dahin zerrütteten Kontinent dauerhaft zu stabilisieren. Mit der EGKS 1951, den Römischen Verträgen zur Gründung der Euratom und der EWG 1957, mit der Europäischen Gemeinschaft ab 1965 und schließlich der politischen Union ab 1992 wurde ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der den vormals verfeindeten Staaten über die wirtschaftliche Verzahnung hinaus auch die Chance zur Herausbildung einer Wertegemeinschaft bot. Damit gesellte sich neben der Friedenssicherung und der Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstands auch das innere Zusammenwachsen als Treibkraft und Zielrichtung der europäischen Integrationsentwicklung. Dass sich das Herausbilden einer europäischen Zusammengehörigkeit aber nicht über die Institutionen alleine bewerkstelligen würde, mahnte der italienische Ministerpräsident Alcide Degasperi schon 1951 bei der beratenden Versammlung der EGKS an: „Wenn wir ohne einen von einem zentralen Organ kontrollierten, übergeordneten politischen Willen lediglich gemeinsame Verwaltungen aufbauen, in der nationale Interessen aufeinandertreffen, sich herauskristallisieren und zu Höherem verbinden, läuft diese europäische Aktivität Gefahr, ohne Leben zu bleiben – im Vergleich zur Vitalität nationaler Vorhaben.“
Heute, 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, müssten wir uns eigentlich damit auseinandersetzen, welche Mission diese Staatengemeinschaft nunmehr hat und welche Rolle sie in der Welt spielt – und zu spielen gedenkt. Diese politische Union hat wesentlich zur gesamteuropäischen Integration beigetragen, indem die Gründerväter bei diesem Friedens-Projekt vor allem auf die Bedeutung des Verbindenden fokussierten. Heute müssen wir jedoch wahrnehmen, dass wir innerhalb der Europäischen Union mit seinen 27 Mitgliedsstaaten weit von der Grundlage zu einem gemeinsamen Leitbild entfernt sind. Ihre Mitglieder sind nicht imstande, ein gemeinsames Wertegerüst zu definieren, auf dessen Basis die Lösungskonzepte für die aktuellen Herausforderungen definiert werden müssten. Die Sinnkrise der Gemeinschaft wird damit beherrschend. Der „Brexit“ ist nur eines der vielen Symptome dafür, dass die EU für ihre Mitglieder zwar Vorteile wirtschaftlicher Natur bringt, aber ansonsten scheinbar alles andere als „sexy“ ist – meinen zumindest die Briten. Die wichtigen Schritte zur europäischen Integration konnten indes immer dann gesetzt werden, wenn die eigenen, nationalstaatlichen Interessen ein Stück weit hintan gestellt wurden. Oder um es in den Worten von Jürgen Habermas zu sagen: „Kompromisse sind nur unter kompromissbereiten Partnern möglich und dafür dürfen die Interessenlagen nicht zu weit auseinandergehen“.
Welche Werte verbinden also heute die Europäische Union und die europäischen Partner-Staaten und wozu will sich diese Union bekennen? Die aktuelle Krise gilt es als Chance zu erkennen. In diesem Sinne bräuchte es wieder mehr Europa und nicht weniger! Jedoch ein mehr an Europa nicht nur durch die immer enger werdende wirtschaftliche Verflechtung, sondern vor allem auch im Sinne der innereuropäischen Kooperation, Solidarität und Verständigung über das Gemeinsame. Die Verfechter für ein Europa mit einem verstärkt nationalstaatlichem Anstrich mögen sich derzeit zwar im Aufwind befinden. Ich bin jedoch überzeugt, dass sich trotz dieser Gegenbewegungen durch sieben Jahrzehnte europäische Integration in den Zivilgesellschaften eine europäische Identität entwickelt hat, die letztlich die entscheidende Triebkraft des Zusammenhalts sein kann. Der Kern dieser Identität ist vor allem die Kultur, die ganz wesentlich zum Reifen einer Gesellschaft beiträgt und das Verständnis über gemeinsame Wurzeln fördert. Sie bildet damit die notwendige Voraussetzung und ein wertvolles Vermögen, auf deren Grundlage gesellschaftliche Weiterentwicklung passieren kann. Und damit auch die Weiterentwicklung und Festigung unserer europäischen Identität.
In diesem Sinne sollten wir heute das Jubiläum zu „60 Jahre Römische Verträge“ dazu nutzen, uns der positiven und verbindenden Kräfte und Ideen für ein verbundenes, handlungsfähiges und solidarisches Europa zu besinnen.