Ob in Sarajevo, Wien, München oder Zürich und abschließend in Istanbul, auf Dorfplätzen, in Bars oder Galerien, die Südtiroler Künstlerin Maria Walcher richtete sich dort mit ihrer Nähmaschine ein, wo sie mit Menschen in Kontakt kommen konnte. Dabei bat sie diese, ihr Kleidungsstücke zur Verfügung zu stellen, welche mit einer persönlichen Geschichte oder Erinnerung verknüpft waren, vernähte diese miteinander und hat so Geschichten rund um den Globus kreiert. Das war im Jahr 2011. Damals hat Walcher zum ersten Mal ihre Koffer gepackt und sich mit ihrer Nähmaschine auf eine Reise gemacht. Entstanden ist das Projekt „I pack my bag“. Mit dem Erinnerungsstück Kleidung hat die Südtiroler Künstlerin sozusagen eine Plattform der Kommunikation und des kulturellen Austausches geschaffen.
Seit über zehn Jahren greife Maria Walcher in ihrer künstlerischen Arbeit dringende gesellschaftliche Themen rund um soziale Gerechtigkeit, Umgang mit dem Fremden, Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie Erinnerungskultur auf, heißt es in der Begründung der Jury. Dass ich nun heute – also zehn Jahre später – im Rahmen einer virtuellen Preisverleihungsfeier gemeinsam mit meiner Tiroler Kollegin, Landesrätin Beate Palfrader, der Künstlerin Maria Walcher den Paul-Flora-Preis 2021 übergeben darf, ist mir eine ganz besondere Freude: Einerseits, weil es sich um eine Südtiroler Künstlerin handelt, andererseits, weil mich mit Maria Walcher die Oberschulzeit verbindet. Auch wenn Maria Walcher ein Jahr älter ist als ich, so habe ich sie sehr gut in Erinnerung, denn schon damals war ihr kreatives Potenzial sehr präsent.
Maria Walcher: „Auf unkonventionelle Weise einen Dialog aufbauen“
Begonnen hat Maria Walchers Werdegang mit der Nähmaschine ihrer Mutter, mit der sie früh gearbeitet hat, und der Werkbank, die der Vater für sie eingerichtet hat. Nach der Oberschulzeit in Brixen hat Maria Walcher art-biografisch Stationen durchlaufen, die sie an pulsierende Zentren europäischen und zeitgenössischen Kunstschaffens führten. Seit nunmehr über zehn Jahren nutzt Maria Walcher ihre künstlerischen Arbeiten, um „auf unkonventionelle Weise einen Dialog zwischen Betrachterin oder Betrachter und Kunstwerk aufzubauen, sensible Themen anzusprechen und Fragen in den Raum zu werfen“. Ja, Maria Walcher hinterfragt, wirft auf und verhandelt gesellschaftsrelevante Fragestellungen in ihrer Arbeit neu. Dabei zeitigt ihre Arbeit den Nachweis einer interaktiven gestalterischen Sensibilität. Sie nimmt dabei auf Referenzpunkte Bezug, die aufgrund ihres Gestaltungsinputs im Stande sind, Ideen in konkrete, verdinglichte Inhalte fließen zu lassen. Sie verwendet dafür einfache Materialien und Methoden, um so gesellschaftsrelevante Themen in einen aktuellen Kunstdiskurs zu übersetzen.
Die Aktualität ihrer Auseinandersetzung ist ein für den Paul-Flora-Preis würdiger Ansatz
Die Aktualität ihrer Auseinandersetzung ist ein für den Paul-Flora-Preis würdiger Ansatz. Denn Kunst muss aufwerfen, hinterfragen, sich trauen, etwas auszusprechen, was nicht passend ist. Gerade in dieser von Corona bestimmten außerordentlichen Zeit brauchen wir allzu sehr, dass jemand gesellschafts- und sozialpolitische Themen treffend anspricht und einen Diskurs aufwirft. Maria Walcher schafft das und tut das. Oder um es andersrum auszudrücken: Anlässlich der heutigen Preisverleihung habe ich zwei Gedanken um Paul Flora herausgesucht, wo mir persönlich vorkommt, dass diese auch auf Maria Walcher zutreffen: Als Flora 2002 sein letztes Buch mit seinen Grafiken „Rückwärts in die Zukunft“ veröffentlichte, bezeichnete Erich Kästner den Südtiroler Künstler Paul Flora als „einen wilden Schriftsteller, der in der Muttersprache aller Völker schreibt“.
Seit 2010 wird der Paul-Flora-Preis abwechselnd für beide Länder verliehen. Der Kunstpreis, der an den im Jahr 2009 verstorbenen Südtiroler Künstler Paul Flora erinnert, trägt der besonderen Bedeutung der zeitgenössischen bildenden Kunst Rechnung und verfolgt das Ziel, zeitgenössische Kunst dies- und jenseits des Brenners zu fördern sowie junge Künstlerinnen und Künstler anzuregen, engagiert, kreativ und kritisch zu sein. Gleichzeitig setzt der Kunstpreis aber auch Impulse für die grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit zwischen Tirol und Südtirol. Die diesjährige Preisträgerin Maria Walcher, 1984 in Brixen geboren und in Innsbruck lebend, verkörpert das grenzüberschreitende Element des Paul-Flora-Preises in besonderem Maße.
Was uns bleibt: der Wunsch an Walcher, das Unaussprechliche auszusprechen
Kurzum: Der Paul-Flora-Preis ist einer der schönsten Kunstpreise, den unser Land zu vergeben hat, – wenn nicht sogar der schönste: weil er Zuspruch und Würdigung, Ansporn und Motivation für junge Künstlerinnen und Künstler ist. Maria Walcher ist allemal eine würdige Trägerin für diesen mit 10.000 Euro dotierten Preis. Und was bleibt uns? Der Wunsch, dass Maria Walcher mittels ihrer künstlerischen Arbeiten weiterhin die Stimme gegen Gleichgültigkeit und Ignoranz erhebt, uns berührt, mit uns in Dialog tritt und so das Unaussprechliche darstellt, was uns alle angeht.