Selten zuvor standen wir zu Kindergarten- und Schulbeginn wahrscheinlich dermaßen im Scheinwerferlicht. Selten zuvor wird dermaßen kontrovers öffentlich über Kindergarten und Schule und die Ansprüche an uns diskutiert. Selten zuvor haben Außenstehende erkannt – auch wenn dies erst auf den zweiten Blick deutlich wird – was die Arbeit in Kindergarten und Schule wohl bedeutet. Und selten zuvor waren Kindergarten und Schule dermaßen ein Spiegelbild der Gesellschaft, eine Reflexionsfläche für Ängste und Sorgen, wie jetzt!
Ich möchte diese, durchaus gewagte Thesen mit ein paar persönlichen, keineswegs erfundenen Geschichten untermauern –Geschichten aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen:
Da gibt es die junge Mittelschülerin, von der mir beim Besuch ihres Schülerinnenheims vor Kurzem berichtet wurde. „Wir wussten, dass wir es nicht tun durften“, meinte die Heimleiterin zu mir. Ich fragend: „Was genau?“ Die Antwort: „Wir haben sie ins Heim geholt, während des Lockdowns, ihr zuliebe, weil die Luft zuhause zu dünn geworden ist.“
Oder das Kindergartenkind, das in der zweiten Maihälfte den Notdienst in Anspruch genommen hat. Auf die Frage an die Eltern, wie wohl der Kleine sich denn fühle, meinen sie: „Inzwischen gut. Es hat aber ein paar Tage gedauert, er hat sich in den ersten Tagen nicht trauen wollen andere Kinder anzufassen, des Virus wegen“
Oder schlussendlich das Grundschulkind, das im April den Laptop der Schule als Leihgerät hingestellt bekam. Aber so einfach gestaltete sich die Sache nicht. Es gab zu Hause schlichtweg niemanden, der dieses Gerät bedienen konnte. Und schon gar nicht jemanden, der das Kind in der Bildungssprache begleiten und unterstützen konnte.
Führungskräfte an Südtirols Kindergärten und Schulen sowie Pädagogische Fachkräfte und Lehrpersonen haben noch viel mehr solcher Geschichten erlebt, völlig unabhängig davon, ob sie sich im oder eben außerhalb von Kindergarten, Grund- und Mittelschule, Oberschule, Musikschule oder Berufsschule abgespielt haben.
Gerade aufgrund solcher und ähnlicher Geschichten glaube ich, dass die öffentliche Diskussion im Moment immer noch viel zu kurzgreift. Denn!
Bildung ist mehr als das reine Abdecken von Zeit
Ja, der Lockdown war für viele eine Belastungsprobe, für die Kinder und Jugendlichen in erster Linie – wenn auch nicht für alle im selben Maße – für die Eltern, die eine ganze Reihe von Notwendigkeiten und Interessen verbinden mussten; für unsere Lehrpersonen, die in ihrem pädagogischen Auftrag zur individuellen Förderung an die Grenze gebracht worden sind.
Wir wissen alle: Unsere Kinder und Jugendlichen werden es verschmerzen können, wenn der Unterrichtsstoff, wie es veraltet heißt, nicht in gewohnter, so ausführlicher Form abgehandelt wurde. Die eine Unterrichtsstunde wird nicht den Unterschied ausmachen. Das sage ich auch im Hinblick auf das beginnende Schuljahr!
Was aber im Lockdown einmal mehr deutlich wurde: Bildung ist Beziehung. Bildung ist das Spüren von Begeisterung, von Empathie, von Verständnis und von Herzlichkeit. Bildung ist das Spüren jener Bezugsperson, für die manches Mal auch das reine „Da-Sein“ reicht. Und wir alle wissen: Keine Videokonferenz der Welt kann diese Beziehung erlebbar und greifbar machen!
Das sollten wir in erster Linie, trotz unsicherer Rahmenbedingungen, Kindern und Jugendlichen zurückgeben: Nicht so viele Stunden wie möglich, das ist nicht das Primäre, sondern wertvolle und wertschätzende Präsenz-Stunden. Denn sie haben diese schmerzvoll vermisst, ihre Lehrpersonen, Mitschülerinnen und Mitschüler.
Ja, um es mit einem Augenzwinkern zu sagen, wahrscheinlich hat es selten einen Kindergarten- und Schulbeginn gegeben, auf den sich unsere Kinder und Jugendlichen so sehr freuen.
Chancengerechtigkeit ist und bleibt unser Kernauftrag
„Chancengerechtigkeit“ schien in den vergangenen Jahren manches Mal wohl eher ein theoretischer als ein praktischer Begriff zu sein, ein hehres, oft wenig verständliches Ziel. Kinder und Jugendliche aber zu einem Bildungserfolg zu führen, unabhängig von ihrer Herkunft, muss aber immer, ja, immer im Mittelpunkt stehen. Und gerade deswegen sage ich: Keiner, ja, wirklich keiner will noch einmal einen Bildungs-Lockdown. Eine landesweite Schließung aller Kindergärten und Schulen, das können und dürfen wir uns nicht mehr leisten. Weil Hindernisse sprachlicher, kultureller, sozialer oder technischer Natur dann doppelt und dreifach wiegen. Das ist wohl für uns alle der wahre Wehrmutstropfen des zweiten Halbjahres 2020, dass es nahezu unmöglich war, diese Hindernisse aus der Distanz ausgleichen zu können.
Das hauptsächliche Ziel des beginnenden Kindergarten- und Schuljahres ist genau das: Allen Kindern und Jugendlichen unter allen möglichen Umständen, die wir heute noch nicht alle kennen können – denn keiner von uns ist ein Prophet –, ihr Recht auf Bildung zu gewährleisten und all das zu minimieren, was es für sie schwierig macht.
Bildung muss mehr denn je Ausgleich und Respekt leben
Wenn ich meine, dass Kindergarten und Schule ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, dann wird der heurige Kindergarten- und Schulbeginn wohl für uns alle zur Bewährungs- und unter Umständen auch zur Belastungsprobe. Denn da gibt es, lassen Sie mich das mit entschlossenen Worten sagen, viele „Mauler“, die all das, was wir tun müssen, als Blödsinn abtun, alle Vorsichtsmaßnahmen, auch die notwendigen organisatorischen Anpassungen. Da gibt es aber auch, auch das sollten wir nicht vergessen, die eher Ängstlichen, die ruhig sind und abwarten, die nicht groß die Stimme erheben. Wenn nicht der Eine für den Anderen Verständnis und Respekt findet, dann wird unsere Gesellschaft – und damit auch nicht Kindergarten und Schule – diese Herausforderung nicht bestehen. Wer glaubt, dass es genüge, nur für sich selber oder die eigenen Kinder Verantwortung zu übernehmen, der hat vergessen, dass es auch eine kollektive Verantwortung und Verpflichtung gibt.
Liebe Führungskräfte, liebe Pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte, liebe Eltern! Dieser Beginn des Kindergarten- und Schuljahres ist für viele von uns ein sehr, sehr ungewohnter, vor allem in unserem Anspruch nach Genauigkeit und präziser Vorbereitung. Denn wir alle stehen selbst vor vielen Fragezeichen: Werden sich die Sicherheitsauflagen und -Vorschriften womöglich noch ändern? Wie oft werden wir flexibel sein müssen? Was erwartet uns in den kommenden Monaten organisatorisch? Ja, Sicherheiten geraten ins Wanken. Und wenn sich Unsicherheit breit macht, dann reagieren Menschen mit Nervosität, mit Sorge, auch mit Ärger.
Wir können ihnen allen nur eine Sicherheit geben, auch wenn dies einfach klingen mag: Tun wir alles dafür, um den uns Anvertrauten, den Kindern und Jugendlichen, zur Seite zu stehen. Tun wir alles dafür, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Sie brauchen dieses Vertrauen in einer Zeit der allgemeinen Verunsicherung, in einer Zeit, in der man oft schwer erkennen mag, wen man überhaupt noch glauben kann, allzu sehr.
Ich danke Ihnen allen, Führungskräften, Pädagogischen Fachkräften und Lehrpersonen sowie Ihren Schulgemeinschaften, von Herzen für das, was Sie im vergangenen Kindergarten- und Schuljahr geleistet haben und für das, was Sie noch leisten werden müssen. Vielleicht wird es wieder ein turbulenter, ein steiniger Weg werden, aber ich bin mir sicher: In der gewohnten Professionalität, mit Umsicht, Pragmatismus und Hausverstand, werden wir diesen Weg gemeinsam bewältigen.
Alles Gute für das Bildungsjahr 2020/2021!